Staffel 1: Der frühe Anruf 

  • Folge 1: Der Riss in der heilen Welt

    Teil 1: Geschichte in dieser Folge:

    Ein ganz normaler Mann, ein unbeschriebenes Blatt. Bis die Polizei frühmorgens an seine Tür klopft und eine heile Welt zerreisst. Er wird der schweren Körperverletzung beschuldigt und landet direkt in Untersuchungshaft. Für die Staatsanwaltschaft scheint der Fall klar, doch Strafverteidiger Max Kramer weiss: Der erste Eindruck ist selten die ganze Wahrheit. Eine Geschichte über einen Moment, der alles verändert.

    Teil 2: Rechtliche Fragen in dieser Folge:

    1. Die Untersuchungshaft (U-Haft)

    Dieser Block behandelt die grundlegenden Voraussetzungen, unter denen eine beschuldigte Person vor einer rechtskräftigen Verurteilung inhaftiert werden darf. Er basiert auf den Erklärungen zu Art. 221 der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO).

    Wichtigste Rechtsfragen, die erklärt und beantwortet werden:

    1. Unter welchen Voraussetzungen darf eine Person in Untersuchungshaft genommen werden, obwohl die Unschuldsvermutung gilt?
      • Antwort: Die Untersuchungshaft ist nur zulässig, wenn drei Voraussetzungen (die “drei Säulen”) kumulativ erfüllt sind:
        1. Ein dringender Tatverdacht liegt vor.
        2. Es handelt sich um ein Verbrechen oder Vergehen.
        3. Mindestens ein besonderer Haftgrund ist gegeben.
    2. Was bedeutet “dringender Tatverdacht”?
      • Antwort: Es reicht nicht aus, dass die Person die Tat begangen haben könnte. Die Staatsanwaltschaft muss aufgrund der Beweislage mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der Beschuldigte der Täter ist. Im diesem Fall wurde dies durch Zeugenaussagen begründet.
    3. Welche besonderen Haftgründe gibt es und was bedeuten sie?
      • Antwort: Das Gesetz nennt drei Hauptgründe:
        • Fluchtgefahr: Die konkrete Befürchtung, dass der Beschuldigte untertaucht oder ins Ausland flieht, um sich dem Verfahren zu entziehen. Bei Personen mit festen sozialen und beruflichen Bindungen (wie Lukas Gerber) ist dieser Grund oft schwer zu begründen.
        • Kollusions- oder Verdunkelungsgefahr: Die ernsthafte Befürchtung, dass der Beschuldigte in Freiheit Beweise vernichtet oder Zeugen beeinflusst (z.B. durch Druck oder Einschüchterung). Dies ist der in der Praxis am häufigsten angewandte Haftgrund.
        • Wiederholungsgefahr: Die Befürchtung, dass der Beschuldigte sofort weitere, ähnliche Straftaten begehen würde. Dies betrifft meist Personen mit einschlägigen Vorstrafen.

    2. Der Straftatbestand der schweren Körperverletzung

    In diesem Abschnitt wird der Tatvorwurf der schweren Körperverletzung gemäss Art. 122 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) analysiert und von der einfachen Körperverletzung abgegrenzt.

    Wichtigste Rechtsfragen, die erklärt und beantwortet werden:

    1. Worin unterscheidet sich eine schwere Körperverletzung rechtlich von einer einfachen Körperverletzung?
      • Antwort: Eine einfache Körperverletzung führt zu heilbaren Schäden wie blauen Augen, Schürfwunden oder unkomplizierten Knochenbrüchen. Eine schwere Körperverletzung ist durch eine der im Gesetz aufgeführten, besonders gravierenden Folgen definiert.
    2. Welche Verletzungsfolgen machen eine Körperverletzung zu einer “schweren”?
      • Antwort: Das Gesetz (Art. 122 StGB) nennt eine Liste von qualifizierenden Merkmalen:
        • Lebensgefährliche Verletzung: Eine Verletzung, bei der die Möglichkeit des Todes zu einer “ernstlichen und dringlichen Wahrscheinlichkeit” wird. Ein Koma nach einer Kopfverletzung ist der klassische Fall.
        • Bleibende Schäden: Dazu zählen die Verstümmelung oder das Unbrauchbarmachen eines wichtigen Organs oder Gliedes (z.B. Verlust eines Auges, einer Hand), eine bleibende Arbeitsunfähigkeit oder eine “arge und bleibende Entstellung des Gesichts”.
        • Andere schwere Schädigungen: Ein Auffangtatbestand für andere ebenso gravierende Folgen, wie z.B. schwere chronische Schmerzzustände oder ein schweres psychisches Trauma.

    3. Erste strategische Schritte der Verteidigung

    Dieser Block beschreibt das unmittelbare Vorgehen eines Strafverteidigers, nachdem sein Mandant verhaftet wurde und ihm ein schweres Delikt vorgeworfen wird.

    Wichtigste verfahrenstaktische Fragen, die erklärt und beantwortet werden:

    Eigene Ermittlungen aufnehmen: Sich nicht nur auf die polizeilichen Ermittlungen verlassen, sondern aktiv nach entlastenden Beweisen oder alternativen Tathergängen suchen (z.B. übersehene Zeugen, andere mögliche Konflikte am Tatort).

    Was sind die ersten und wichtigsten strategischen Massnahmen eines Verteidigers nach der Verhaftung des Mandanten?

    Antwort: Die Strategie umfasst vier zentrale, aufeinander aufbauende Schritte:

    Auf das Schweigerecht hinweisen: Den Mandanten darauf aufmerksam machen, dass er als Beschuldigter nicht verpflichtet ist, zur Sache auszusagen oder aktiv an seiner eigenen Überführung mitzuwirken. Er kann von seinem Schweigerecht jederzeit und ohne nachteilige Folgen Gebrauch machen.

    Vollumfängliche Akteneinsicht verlangen: Um die Beweislage der Staatsanwaltschaft zu kennen (Zeugenaussagen, Berichte, Videoaufnahmen etc.) und nicht “blind” agieren zu müssen.

    Ein Haftentlassungsgesuch einreichen: Die Haftgründe der Staatsanwaltschaft aktiv angreifen und dem Gericht aufzeigen, dass mildere Massnahmen (z.B. Kontaktverbot, Rayonverbot) ausreichen, um den Verfahrenszweck zu sichern.

    Den Sachverhalt mit dem Mandanten rekonstruieren: Nach Erhalt der Akten den Mandanten gezielt mit den Vorwürfen konfrontieren, um eine lückenlose und glaubwürdige Version des Geschehens aus Sicht der Verteidigung zu erarbeiten.

  • Folge 2: Max Kramer stellt sich vor

    Für heute wird der Fall “der frühe Anruf” zur Seite gelegt und der Verteidiger selbst ins Kreuzverhör genommen. In dieser Sonderfolge tauscht Max Kramer die Seiten und gewährt persönliche Einblicke in seinen Werdegang, seine Motivation und die täglichen Kämpfe, die sein Beruf mit sich bringt. Wer ist der Mann, der sonst für andere kämpft?

  • Folge 3: Die Büchse der Pandora

    Teil 1: Geschichte in dieser Folge:

    Für Anwalt Max Kramer ist das Eintreffen der Ermittlungsakte immer ein besonderer Moment. In diesem Fall gleicht sie der Büchse der Pandora: Heraus strömen scheinbar erdrückende Beweise, die seinen Mandanten schwer belasten. Doch zwischen den Zeilen findet Kramer nicht nur Hoffnung, sondern auch den Schlüssel zu seinem Mandanten. Ein Schlüssel, der eine Wahrheit freilegt, die so schockierend ist, dass sie den gesamten Fall auf den Kopf stellt.

    Teil 2: Rechtliche Fragen in dieser Folge:

    1. Beweiswürdigung der Zeugenaussagen und Spurenlage

    Dieser Block befasst sich mit der kritischen Analyse der Beweismittel, die die Staatsanwaltschaft gegen den Beschuldigten vorbringt. Im Zentrum steht die Frage, wie belastbar diese Beweise vor Gericht tatsächlich sind.

    Wichtigste Rechtsfragen:

    • Wie zuverlässig sind Zeugenaussagen und wie werden sie von einem Gericht bewertet?
      Die Zuverlässigkeit wird stark in Frage gestellt, wenn die Wahrnehmungsfähigkeit der Zeugen eingeschränkt war (z.B. durch Alkoholkonsum, Dunkelheit, grosse Distanz zum Geschehen). Eine Aussage, die nur allgemeine Merkmale wie die Farbe eines Hemdes beschreibt, wird nicht als Beweis, sondern nur als sehr schwaches Indiz gewertet.
    • Welche rechtliche Bedeutung hat das Fehlen von Beweisen?
      Wenn bei einem angeblich heftigen Nahkampf (hier: Faustschläge ins Gesicht) keinerlei forensische Spuren (DNA, Hautpartikel, Fingerabdrücke) gefunden werden, kann dies als starkes Indiz dafür gewertet werden, dass sich der Tathergang nicht wie von der Anklage beschrieben zugetragen hat. Das “Schweigen der Beweise” kann somit die Version der Anklage massgeblich entkräften.

    2. Würdigung des Verhaltens des Beschuldigten

    Dieser Block konzentriert sich auf das Verhalten des Beschuldigten nach der Tat, insbesondere seine Flucht und seine anfängliche Falschaussage, und wie dies juristisch zu interpretieren ist.

    Wichtigste Rechtsfragen:

    • Ist die Flucht vom Tatort ein Beweis für die Schuld?
      Nein, die Flucht ist rechtlich gesehen kein Beweis, sondern hier wohl ein Indiz für ein “schlechtes Gewissen”. Es muss immer geprüft werden, ob es alternative, plausible Erklärungen für die Flucht gibt – wie zum Beispiel panische Angst, fälschlicherweise für den Täter gehalten zu werden. Gibt es zwei plausible Erklärungen, muss der Grundsatz “im Zweifel für den Angeklagten” (in dubio pro reo) angewendet werden.
      (Bemerkung: dieser Grundsatz kommt meistens unter Würding sämtlicher Beweise und nicht eines einzelnen Beweises zum Tragen).
    • Wie wird eine anfängliche Lüge des Beschuldigten (hier: Amnesie) bewertet?
      Eine Lüge schwächt die Glaubwürdigkeit des Beschuldigten, kann aber psychologisch erklärt werden (z.B. als Verdrängung aufgrund eines traumatischen Erlebnisses). Aufgabe der Verteidigung ist es, diese alternative Erklärung für das Gericht plausibel zu machen.

    3. Strafbarkeit des Beschuldigten selbst bei Richtigkeit seiner Geschichte

    In diesem Block wird analysiert, ob sich der Beschuldigte durch sein Verhalten strafbar gemacht hat, selbst wenn man davon ausgeht, dass er die Haupttat (schwere Körperverletzung) nicht begangen hat.

    Wichtigste Rechtsfragen:

    • Macht man sich strafbar, wenn man einem schwer verletzten Menschen keine Hilfe leistet (Unterlassung der Nothilfe, Art. 128 StGB)?
      Grundsätzlich ja. Man wird bestraft, wenn man einer Person in unmittelbarer Lebensgefahr nicht hilft. Eine Ausnahme besteht, wenn die Hilfeleistung “nicht zugemutet werden konnte”. Ob ein psychischer Ausnahmezustand (Schock, panische Angst) ausreicht, um die Zumutbarkeit zu verneinen, ist eine schwierige Abwägungsfrage für das Gericht.
    • Macht man sich der falschen Anschuldigung (Art. 303 StGB) strafbar, wenn man einen fiktiven Täter erfindet?
      Nein. Der Tatbestand der falschen Anschuldigung ist in der Regel nur dann erfüllt, wenn man eine konkrete, existierende Person wider besseres Wissen beschuldigt. Das Erfinden eines “Phantoms” oder eines namenlosen Sündenbocks ist zwar moralisch verwerflich und schadet der eigenen Glaubwürdigkeit, ist aber juristisch meist keine falsche Anschuldigung.
    • Macht man sich der Begünstigung strafbar, wenn man eine Straftat beobachtet, aber schweigt und flieht?
      Nein. Blosse Passivität (Schweigen, Weglaufen) erfüllt den Tatbestand der Begünstigung nicht. Strafbar wäre es nur, wenn man dem Täter aktiv geholfen hätte, der Strafverfolgung zu entgehen (z.B. durch Bereitstellen eines Fluchtfahrzeugs oder Versteckens).

    Zusatz: Prozessrechtlicher Hinweis

    Am Ende des Gesprächs in Teil 2 wird ein formeller Punkt zum Schweizer Justizsystem geklärt.

    Gibt es in der Schweiz Geschworenengerichte?
    Nein. Mit der Einführung der Schweizerischen Strafprozessordnung im Jahr 2011 wurden die Geschworenengerichte abgeschafft. In einigen Kantonen wirken zwar Laienrichter an Urteilen mit, diese sind aber nicht mit dem klassischen Geschworenensystem (z.B. aus den USA) vergleichbar.