2025

Dieser Blog bietet kompakte und verständliche Zusammenfassungen aktueller Entscheide des Schweizerischen Bundesgerichts aus dem Jahre 2025. Er richtet sich an alle Interessierten, die sich schnell und zuverlässig über die neueste Rechtsprechung informieren möchten, mit Fokus auf die Kernaussagen, die rechtliche Einordnung und die praktische Bedeutung der Urteile.


  • 008: In dubio pro media

    Urteil 7B_733/2024 des Bundesgerichts vom 31. Januar 2025 – Die Festung Quellenschutz: Warum das Bundesgericht die „Corona-Leaks“ versiegelt lässt

    Ein Paukenschlag aus Lausanne: Das Bundesgericht hat am 31. Januar 2025 entschieden, dass die Kommunikation zwischen dem ehemaligen Kommunikationschef von Bundesrat Alain Berset, Peter Lauener, und Ringier-CEO Marc Walder unter Verschluss bleibt. In einem wegweisenden Urteil 7B_733/2024 stärken die Richter den journalistischen Quellenschutz massiv und erteilen der Bundesanwaltschaft eine klare Absage. Doch der Entscheid wirft fundamentale Fragen über das Spannungsfeld zwischen Strafverfolgung und Medienfreiheit auf.

    Der Sachverhalt: Von der Crypto-Affäre zu den Corona-Mails

    Die Geschichte beginnt, wie so oft in der Justiz, mit einem Zufallsfund. Ursprünglich ermittelte ein ausserordentlicher Staatsanwalt wegen Amtsgeheimnisverletzungen in der „Crypto-Affäre“. Bei der Durchsicht der Mailbox von Peter Lauener stiess man jedoch auf brisante Kommunikation, die nichts mit Crypto-Geräten, aber alles mit der Pandemie-Bekämpfung zu tun hatte. Der Verdacht: Lauener soll Marc Walder regelmässig vertrauliche Informationen zu bevorstehenden Covid-19-Entscheiden des Bundesrates zugespielt haben. Der Vorwurf wog schwer, denn es ging nicht nur um die Weitergabe von Informationen, sondern um den Verdacht, dass via Medienberichterstattung Druck auf den Gesamtbundesrat ausgeübt werden sollte.

    Im Mai 2022 schlug die Bundesanwaltschaft zu: Hausdurchsuchungen bei Lauener und Walder sowie Editionen bei Ringier. Sichergestellt wurden Mobiltelefone, Laptops und Datenträger. Doch die Betroffenen reagierten sofort und verlangten die Siegelung der Daten. Das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Bern schützte diese Siegelung und verweigerte die Freigabe. Dagegen wehrte sich die Bundesanwaltschaft vor Bundesgericht – und ist nun vollumfänglich abgeblitzt.

    Die rechtliche Herleitung: Ein absolutes Bollwerk

    Das Bundesgericht taucht in seiner Urteilsbegründung tief in die Dogmatik des strafprozessualen Quellenschutzes ein. Im Zentrum stehen Artikel 172 der Strafprozessordnung (StPO) und das damit korrespondierende Beschlagnahmeverbot nach Artikel 264 StPO.

    Der weite Kreis der geschützten Personen
    Zunächst klärte das Gericht die Frage, ob Marc Walder als CEO überhaupt den Schutz für Medienschaffende geniesst. Die Bundesanwaltschaft hatte argumentiert, Walder agiere hier als Manager oder Lobbyist, nicht als Journalist. Das Bundesgericht wischte diesen Einwand unter Verweis auf Art. 172 Abs. 1 StPO vom Tisch. Der Schutzbereich umfasst nicht nur den schreibenden Redaktor, sondern auch „Hilfspersonen“ und jene, die sich beruflich mit der Veröffentlichung im redaktionellen Teil befassen. Das Gericht stellte klar, dass die hierarchische Stellung irrelevant ist. Auch ein Verleger oder CEO, der als Bindeglied zwischen einer Quelle (Lauener) und der Redaktion fungiert, ist durch das Redaktionsgeheimnis geschützt.

    Keine Interessenabwägung bei Amtsgeheimnisverletzung
    Der Kern des Entscheids liegt in der Anwendung von Art. 172 Abs. 2 StPO. Dieser Artikel enthält einen abschliessenden Katalog von schweren Straftaten (wie Tötungsdelikte oder schwere Drogendelikte), bei denen der Quellenschutz durchbrochen werden darf. Die Verletzung des Amtsgeheimnisses (Art. 320 StGB) fehlt in dieser Liste. Das Bundesgericht betonte mit aller Deutlichkeit: Wenn das Delikt nicht im Katalog steht, gilt der Quellenschutz absolut. Es findet keine richterliche Interessenabwägung im Einzelfall statt. Der Gesetzgeber habe sich für Rechtssicherheit und gegen richterliches Ermessen entschieden. Damit ist es irrelevant, wie politisch brisant die Leaks waren oder ob sie die Arbeit der Exekutive störten.

    Der „Reflex-Schutz“ beim Informanten
    Ein besonders spannender Aspekt ist die Auslegung von Art. 264 Abs. 1 lit. c StPO. Dieser verbietet die Beschlagnahme von Unterlagen aus dem Verkehr mit zeugnisverweigerungsberechtigten Personen. Die Bundesanwaltschaft wollte zumindest auf die Geräte von Lauener zugreifen. Das Gericht stellte jedoch klar: Der Quellenschutz wäre nutzlos, wenn man die Daten einfach beim Informanten statt beim Journalisten holen könnte. Das Beschlagnahmeverbot gilt „ungeachtet des Ortes“. Wenn der Journalist geschützt ist, muss auch die Kommunikation auf dem Handy des mutmasslichen Täters geschützt sein, um den „chilling effect“ (die abschreckende Wirkung auf Informanten) zu verhindern.

    Irrelevanz des Motivs
    Schliesslich verwarf das Gericht das Argument des Rechtsmissbrauchs. Die Bundesanwaltschaft argumentierte, hier gehe es nicht um die Aufdeckung von Missständen (die klassische „Wächterfunktion“ der Presse), sondern um politische Instrumentalisierung. Das Bundesgericht hielt fest, dass die Motive des Informanten oder des Mediums keine Rolle spielen. Der Begriff der „Information“ ist weit auszulegen. Würde man den Schutz vom „ehrenwerten Motiv“ abhängig machen, wäre die Pressefreiheit der Willkür der Strafverfolger ausgesetzt.

    Pro und Contra: Eine kritische Würdigung

    Dieser Entscheid ist dogmatisch sauber hergeleitet, hinterlässt aber in der staatspolitischen Realität einen zwiespältigen Eindruck.

    Pro: Ein Sieg für die vierte Gewalt
    Für die Medienfreiheit ist dieses Urteil ein Meilenstein. Es schafft absolute Rechtssicherheit. Journalisten und ihre Quellen müssen nicht fürchten, dass ein Richter im Nachhinein entscheidet, eine Geschichte sei „nicht wichtig genug“ gewesen, um den Quellenschutz zu rechtfertigen. In einer Demokratie ist das essentiell. Whistleblower – auch solche aus der Verwaltung – sind oft die einzige Möglichkeit, Vorgänge in geschlossenen Gremien transparent zu machen. Hätte das Gericht hier eine Ausnahme konstruiert, wäre dies ein Dammbruch gewesen. Staatsanwälte könnten künftig bei jeder unliebsamen Veröffentlichung versuchen, über den Vorwurf der „Instrumentalisierung“ an Quellen heranzukommen. Das Festhalten am starren Katalog von Art. 172 StPO schützt die Presse vor staatlicher Übergriffigkeit.

    Contra: Der Freibrief für die Verwaltung
    Kritisch betrachtet schafft das Urteil faktisch einen rechtsfreien Raum für Indiskretionen auf höchster Ebene. Ein hoher Beamter oder Magistrat kann Amtsgeheimnisse verraten, um politische Gegner zu diskreditieren oder Entscheidungen zu manipulieren, solange er dies via Medien tut. Da Amtsgeheimnisverletzung nie im Katalog der schweren Delikte stehen wird, ist die Strafverfolgung in solchen Fällen faktisch tot, sobald ein Journalist involviert ist. Es entsteht eine Ungleichbehandlung: Verrät Lauener das Geheimnis an einen Lobbyisten der Pharma-Branche, wird er bestraft. Verrät er es an einen Verleger, der (vielleicht) die gleichen Interessen vertritt, ist er geschützt. Zudem blendet das Gericht die Realität der „Verkumpelung“ zwischen Macht und Medien etwas gar grosszügig aus. Wenn Medien nicht mehr Wächter, sondern Mitspieler im politischen Machtpoker sind, wird der absolute Schutz des Art. 172 StPO moralisch fragwürdig, auch wenn er legalistisch korrekt ist.

    Fazit und eigene Position

    Nach eingehender Prüfung der Rechtslage und der Urteilsbegründung muss ich mich für das Urteil des Bundesgerichts aussprechen, wenn auch mit leichtem Bauchschmerzen bezüglich der politischen Hygiene.

    Warum diese Entscheidung?
    Man muss anerkennen, dass das Bundesgericht hier lege lata (nach geltendem Recht) entschieden hat. Der Gesetzgeber hat in Art. 172 Abs. 2 StPO bewusst eine abschliessende Liste erstellt. Es steht der Justiz nicht zu, diese Liste durch die Hintertür einer „Interessenabwägung“ oder einer „Rechtsmissbrauchsklausel“ zu erweitern, nur weil der konkrete Fall politisch anrüchig wirkt. Die Gewaltenteilung verlangt, dass Gerichte Gesetze anwenden, nicht korrigieren.

    Hätte das Gericht anders entschieden und die Entsiegelung erlaubt, wäre die Rechtssicherheit für den investigativen Journalismus in der Schweiz massiv beschädigt worden. Jede Quelle müsste sich fragen: „Ist mein Motiv edel genug für den Richter?“ Das würde den Informationsfluss austrocknen.

    Dass dies im konkreten Fall bedeutet, dass mögliche manipulative Seilschaften zwischen Departementen und Verlegern strafrechtlich nicht aufgearbeitet werden können, ist der Preis, den wir für eine freie Presse zahlen. Die Sanktionierung solcher Vorgänge muss daher politisch (durch Parlament oder Wahlen) oder disziplinarisch erfolgen, nicht durch das Strafrecht unter Aushöhlung der Medienfreiheit. Das Bundesgericht hat somit die Rechtsstaatlichkeit höher gewichtet als das Strafverfolgungsinteresse im Einzelfall – und das ist in einer liberalen Demokratie die richtige Entscheidung.


  • 007: Warum das Bundesgericht bei Abstandsverstössen keinen Spass versteht

    Bundesgerichtsentscheid 6B_778/2024 vom 29. Januar 2025

    Wer kennt es nicht: Man fährt auf der Autobahn, und im Rückspiegel taucht ein Fahrzeug auf, das so nah auffährt, dass man die Scheinwerfer kaum noch sieht. Genau ein solcher Fall von massivem “Drängeln” beschäftigte kürzlich das Bundesgericht. Das Urteil 6B_778/2024 vom 29. Januar 2025 ist nicht nur eine Mahnung an alle ungeduldigen Autofahrer, sondern auch eine interessante Lektion in Sachen Strafprozessrecht und Anklagegrundsatz.

    Was war geschehen?

    Der Sachverhalt liest sich beängstigend: Am Morgen des 23. März 2023 war der Beschwerdeführer auf der A1 unterwegs. Bei einer Geschwindigkeit von 110 bis 120 km/h fuhr er über eine Strecke von knapp 2,4 Kilometern (!) seinem Vordermann extrem dicht auf. Der Abstand betrug laut Feststellungen nur etwa 8 bis 12 Meter. Das Bezirksgericht Zofingen und später das Obergericht Aargau verurteilten ihn wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG. Die Konsequenz: Eine bedingte Geldstrafe und eine gesalzene Verbindungsbusse von ursprünglich 15’000 Franken (später auf 10’000 Franken reduziert).

    Der Fahrer wehrte sich bis vor Bundesgericht. Er monierte formelle Fehler im erstinstanzlichen Urteil, kritisierte die Beweiserhebung durch Videomessung anhand der Leitlinien und rügte eine Verletzung des Anklagegrundsatzes, da im Strafbefehl die spezifischen Artikel zum Abstandsbereich fehlten.

    Die rechtlichen Eckpfeiler des Entscheids

    Das Bundesgericht wies die Beschwerde in den wesentlichen Punkten ab. Besonders spannend sind dabei drei Rechtsgrundsätze, die das Gericht klarstellte:

    Erstens ging es um den Anklagegrundsatz (Art. 9 StPO). Der Beschwerdeführer argumentierte, der Strafbefehl sei ungültig, weil darin zwar der Sachverhalt und der Straftatbestand der groben Verletzung (Art. 90 Abs. 2 SVG) genannt wurden, nicht aber die spezifischen Normen, die den Abstand regeln, nämlich Art. 34 Abs. 4 SVG (Abstand beim Hintereinanderfahren) und Art. 12 Abs. 1 VRV (ausreichender Abstand). Das Bundesgericht erteilte dieser formalistischen Sichtweise eine Absage. Entscheidend sei, dass der Sachverhalt so präzise umschrieben ist, dass der Beschuldigte weiss, was ihm vorgeworfen wird. Die rechtliche Würdigung – also welche Paragraphen auf diesen Sachverhalt passen – ist Aufgabe des Gerichts, nicht der Staatsanwaltschaft. Da im Strafbefehl “ungenügender Abstand” und die konkreten Meterzahlen standen, war dem Angeklagten klar, worum es ging.

    Zweitens befasste sich das Gericht mit der Beweiswürdigung mittels Leitlinien. Der Fahrer bemängelte, dass keine exakte Messung vorlag, sondern der Abstand anhand des Polizeivideos und der Fahrbahnmarkierungen (Leitlinien) geschätzt wurde. Das Bundesgericht bestätigte hier seine ständige Rechtsprechung: Die Ermittlung des Abstands durch Auszählen der Leitlinien und Zwischenräume ist keine Willkür, sondern eine zulässige Beweismethode. Wer bei über 100 km/h weniger als den sogenannten “halben Tacho” (hier sogar weniger als “1/6-Tacho”) Abstand hält, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung.

    Drittens wischte das Gericht die Ausrede vom Tisch, das moderne Fahrzeug habe Assistenzsysteme, die Warnsignale abgeben würden. Technische Helfer entbinden den Fahrer nicht von der Sorgfaltspflicht, und Warnsignale lassen sich ignorieren oder abschalten.

    Kritische Würdigung: Pro und Contra

    Das Urteil bietet Anlass zur Diskussion. Wenn wir eine Contra-Position einnehmen, könnte man die Haltung der Justiz gegenüber behördlichen Fehlern als etwas zu nonchalant empfinden. Im erstinstanzlichen Urteil stand ein falsches Datum. Das Bundesgericht tat dies als “offensichtlichen Fehler” ab, der keine Nichtigkeit begründet. Ein Bürger, der eine Frist aufgrund eines Datumsfehlers verpasst, kann selten auf so viel Nachsicht hoffen. Hier misst das Rechtssystem mitunter mit zweierlei Mass: Strenge für den Bürger, “Berichtigung versehentlicher Fehler” für den Staat. Zudem ist die Schätzung per Leitlinien zwar etabliert, birgt aber im Vergleich zu Lasermessungen immer eine gewisse Unschärfe, die bei solch hohen Strafen und Führerscheinentzugsmassnahmen kritisch hinterfragt werden darf.

    Auf der Pro-Seite steht jedoch ganz klar die Verkehrssicherheit. Wer bei 120 km/h nur 8 Meter Abstand hält, spielt Russisch Roulette mit dem Leben anderer. Die Reaktionszeit bei diesem Tempo bedeutet, dass ein Unfall bei einer Vollbremsung des Vordermanns physikalisch kaum vermeidbar ist. Dass das Bundesgericht hier keine formaljuristischen Schlupflöcher zulässt (wie das Fehlen der Nennung von Art. 12 VRV im Strafbefehl), ist im Sinne des materiellen Rechtsstaats absolut richtig. Der Anklagegrundsatz dient dem Schutz des Beschuldigten, er soll aber nicht dazu dienen, offensichtliches Fehlverhalten wegen bürokratischer Winzigkeiten straffrei zu stellen.

    Fazit und eigene Position

    Ich bin mit dem Urteil des Bundesgerichts einverstanden. Auch wenn die Kritik an der “Fehlerkultur” der Justiz berechtigt sein mag (das falsche Datum im Urteil ist peinlich), überwiegt hier die materielle Gerechtigkeit.

    Der Rechtsgrundsatz aus Art. 34 Abs. 4 SVG ist eindeutig: Der Abstand muss so gross sein, dass auch bei überraschendem Bremsen gehalten werden kann. Bei 8 bis 12 Metern und Autobahngeschwindigkeit ist das faktisch unmöglich. Das Gericht hat hier zu Recht entschieden, dass technische Ausreden (“mein Auto piepst doch”) und juristische Spitzfindigkeiten (“die Paragraphennummer fehlte”) nicht vor der Verantwortung für eine grobe Fahrlässigkeit schützen.

    Das Urteil sendet ein wichtiges Signal: Wer auf der Autobahn drängelt, gefährdet Menschenleben und kann sich nicht darauf verlassen, dass ihn Formfehler vor Gericht retten. Der “halbe Tacho” bleibt als Faustregel essenziell – und wer ihn auf weniger als ein Sechstel reduziert, muss zu Recht mit der vollen Härte des Gesetzes rechnen.


  • 006: «Sie ist gefahren, nicht ich!» – Wenn Schutzbehauptungen scheitern

    Ein Blick in den Bundesgerichtsentscheid 6B_924/2024 vom 27. Januar 2025

    Wer trotz Führerausweisentzugs hinter das Steuer sitzt, riskiert viel. Wer dabei erwischt wird und versucht, die Verantwortung auf die Beifahrerin abzuwälzen, muss im Strafprozess überzeugende Argumente liefern. In einem aktuellen Bundesgerichtsentscheid 6B_924/2024 hat das Bundesgericht erneut die engen Grenzen der Sachverhaltsrüge aufgezeigt und klargestellt, wann Gerichte auf die Einvernahme von Entlastungszeugen verzichten dürfen.

    Der Sachverhalt: Ein nächtlicher Fahrerwechsel?

    Der Fall führt uns an den Grenzübergang Gondo im Wallis. In der Nacht auf den 20. Juli 2022 reiste ein Ehepaar in einem Mercedes-Benz Vito in die Schweiz ein. Der Ehemann, A., stand zu diesem Zeitpunkt unter Führerausweisentzug. Grenzbeamte hielten den Wagen an und identifizierten A. als den Lenker. Dieser bestritt dies jedoch vehement und behauptete, seine Ehefrau habe das Fahrzeug gelenkt. Pikant dabei: Die Grenzbeamten hatten beobachtet, wie der Mann fuhr, und A. hatte sich zunächst noch damit gerechtfertigt, er habe gedacht, er dürfe fahren, da er den physischen Ausweis noch besitze. Erst später änderte er seine Taktik auf den angeblichen Fahrerwechsel. Die Vorinstanz verurteilte ihn wegen Fahrens ohne Berechtigung gemäss Art. 95 Abs. 1 lit. b SVG.

    Rechtliche Analyse: Die Hürde der Willkürrüge

    Der Fokus dieses Bundesgerichtsentscheids liegt nicht auf materiell-rechtlichen Feinheiten des Strassenverkehrsgesetzes, sondern auf dem Prozessrecht, spezifisch der Beweiswürdigung und dem Willkürverbot. Das Bundesgericht betont hierbei seine eingeschränkte Kognition. Gemäss Art. 97 Abs. 1 BGG kann die Feststellung des Sachverhalts nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig – also willkürlich – ist oder auf einer Rechtsverletzung beruht.

    Das Gericht erinnerte daran, dass der Grundsatz “in dubio pro reo” (im Zweifel für den Angeklagten) vor Bundesgericht keine über das Willkürverbot hinausgehende Bedeutung hat. Es reicht nicht aus, eine andere, theoretisch mögliche Version des Geschehens zu präsentieren. Der Beschwerdeführer muss darlegen, dass das vorinstanzliche Urteil im Ergebnis schlechterdings unhaltbar ist. Dies gelang A. hier nicht. Das Gericht stützte sich auf den Indizienbeweis: Die Aussagen der Grenzbeamten waren glaubhaft und detailreich, während A. seine Aussagen im Laufe des Verfahrens anpasste („gesteigerte Aussagequalität“ der Beamten vs. Widersprüche des Beschuldigten).

    Ein zentraler Aspekt des Urteils ist die Anwendung der sogenannten antizipierten Beweiswürdigung. Der Beschwerdeführer rügte, dass seine Ehefrau nicht als Zeugin einvernommen wurde, was den Untersuchungsgrundsatz (Art. 6 StPO) und das rechtliche Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) verletze. Das Gericht wies dies ab. Behörden dürfen auf Beweiserhebungen verzichten, wenn sie den Sachverhalt für genügend geklärt halten und annehmen dürfen, dass ein weiterer Beweis (hier die Aussage der Ehefrau) ihre Überzeugung nicht mehr ändern würde. Da davon auszugehen war, dass die Ehefrau entweder die Falschaussage ihres Mannes stützen oder ihn belasten würde, erachtete das Gericht ihre Einvernahme als nicht zielführend, um die glaubhaften Beobachtungen der Grenzbeamten zu erschüttern.

    Kritische Würdigung: Pro und Contra

    Nimmt man eine kritische Haltung ein, so lassen sich Argumente sowohl für als auch gegen die strikte Linie des Bundesgerichts finden.

    Contra: Kritisch zu betrachten ist die grosszügige Anwendung der antizipierten Beweiswürdigung. Im Strafprozess geht es um die materielle Wahrheit. Wenn ein Beschuldigter behauptet, eine andere Person sei gefahren, und diese Person im Auto sass, erscheint es auf den ersten Blick als Verkürzung der Verteidigungsrechte, diese Schlüsselzeugin nicht zu befragen. Man könnte argumentieren, dass der Staat es sich hier zu einfach macht, indem er sich auf die “Amtsautorität” der Grenzbeamten verlässt und die Ehefrau gar nicht erst anhört, nur weil man vermutet, sie würde ohnehin lügen oder nichts Neues beitragen. Zudem ist das Argument des Beschwerdeführers, die Beamten hätten ihre Aussagen anhand der Akten “aufgefrischt” und nicht aus echter Erinnerung gesprochen, ein in der Praxis häufiges und ernstzunehmendes Problem bei Polizeizeugen.

    Pro: Für die Position des Gerichts spricht jedoch die Realität der Beweislage und die Prozessökonomie. Der Beschwerdeführer hatte sich in massive Widersprüche verstrickt. Dass er bei der Anhaltung zunächst zugab, gefahren zu sein (unter dem Irrtum, er dürfe es), und erst später die Geschichte mit der Ehefrau erfand, ist ein klassisches Täterverhalten. Grenzbeamte haben in der Regel kein Motiv, einen unbescholtenen Bürger grundlos einer Straftat zu bezichtigen und damit ihre eigene Karriere durch eine Falschbeurkundung zu gefährden. Dass die Ehefrau ebenfalls gebüsst wurde, jedoch wegen Nichtumschreibung ihres ausländischen Ausweises und nicht explizit für die Fahrt zum Zeitpunkt der Kontrolle, löst den scheinbaren Widerspruch logisch auf. Würde man in jedem so klaren Fall zwingend alle theoretisch möglichen Zeugen vernehmen müssen, würde die Justiz durch offensichtliche Schutzbehauptungen lahmgelegt.

    Fazit und meine Einschätzung

    Nach Abwägung der Argumente bin ich mit dem Entscheid des Bundesgerichts einverstanden. Zwar ist die antizipierte Beweiswürdigung ein scharfes Schwert, das mit Vorsicht eingesetzt werden muss, doch im vorliegenden Fall erscheint die Anwendung gerechtfertigt.

    Der entscheidende Punkt ist die anfängliche Einlassung des Beschwerdeführers gegenüber den Beamten („Ich dachte, ich darf fahren“). Diese “Aussage der ersten Stunde” wiegt oft schwerer als spätere, anwaltlich beratene Konstrukte. Wer einmal zugibt, gefahren zu sein, kann später schwerlich glaubhaft machen, er sei nur Beifahrer gewesen. Das Bundesgericht hat hier zu Recht bestätigt, dass die Vorinstanz nicht in Willkür verfallen ist, als sie den Beamten mehr Glauben schenkte als dem Beschuldigten. Das Urteil unterstreicht zudem die Wichtigkeit der Rügeprinzipien vor Bundesgericht: Wer Willkür geltend macht, muss diese substanziiert begründen und nicht nur appellatorische Kritik üben.

    Das Urteil sendet ein klares Signal: Dreiste Schutzbehauptungen, die im Widerspruch zu objektiven Beobachtungen von Amtspersonen und eigenen früheren Aussagen stehen, verfangen auch mit Verweis auf den Untersuchungsgrundsatz nicht. Der Beschwerdeführer bleibt somit auf der Geldstrafe und den Gerichtskosten sitzen.


  • 005: Beweisnot beim Vorwurf des ärztlichen Kunstfehlers

    In dubio pro reo im Operationssaal: Die hohen Hürden beim Nachweis eines Kunstfehlers. Ein Blick auf das Urteil des Bundesgerichts 6B_825/2024

    Ein Routineeingriff an der Hand, der in einem Albtraum endet: Ein Patient erwacht aus der Narkose, und statt der erhofften Heilung sind mehrere Fingerstrecksehnen durchtrennt und eine Brandwunde ziert die Hand. Was für den Laien wie ein offensichtlicher „Kunstfehler“ aussieht, hat das Bundesgericht in seinem Urteil vom 17. Januar 2025 6B_825/2024 nun juristisch final beurteilt – und den beschuldigten Chirurgen freigesprochen. Dieser Fall ist ein Lehrbuchbeispiel für die hohen Hürden im „Arztstrafrecht“ und die Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung.

    Der Sachverhalt: Ein medizinisches Rätsel

    Im Kern ging es um eine Arthroskopie im Jahr 2016. Dem Chirurgen wurde vorgeworfen, fahrlässig mehrere Sehnen durchtrennt und eine Verbrennung verursacht zu haben. Während das Bezirksgericht Zürich noch eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung aussprach, drehte das Obergericht den Wind und sprach den Arzt frei. Das Bundesgericht hatte nun zu prüfen, ob dieser Freispruch Bestand haben kann.

    Das zentrale Problem war die Kausalität. Ein gerichtlich bestellter Gutachter konnte schlichtweg nicht erklären, wie genau die Verletzung zustande kam. Die Wahrscheinlichkeit, dass das verwendete Operationsgerät (ein Shaver) die Sehnen durchtrennte, lag laut Expertise bei verschwindenden 0,11 Prozent. Auch eine thermische Verletzung oder ein Schnitt mit dem Skalpell erschienen dem Gutachter unplausibel oder extrem unwahrscheinlich. Es blieb die theoretische Möglichkeit einer Verletzung nach der Operation (z.B. durch einen unbemerkten Sturz oder Selbstverletzung) oder eine Vorschädigung. Da der genaue Hergang nicht rekonstruierbar war, griff der Grundsatz „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten).

    Rechtliche Analyse: Die Macht der Willkürrüge und des Anklagegrundsatzes

    Juristisch ist dieser Entscheid besonders spannend, weil er die engen Grenzen aufzeigt, die dem Bundesgericht durch Art. 97 Abs. 1 BGG gesetzt sind. Das höchste Gericht ist keine Tatsacheninstanz. Es prüft nicht, ob eine andere Sichtweise möglich wäre, sondern nur, ob die vorinstanzliche Beweiswürdigung offensichtlich unhaltbar, also willkürlich ist.

    Hier zeigt sich die enorme Bedeutung des medizinischen Sachverständigen. Das Gericht stellte klar: Wenn ein Gutachter eine Frage nicht abschliessend beantworten kann, ist dieses „Nicht-Wissen“ ein Beweisergebnis, das hinzunehmen ist. Der Beschwerdeführer versuchte vergeblich darzulegen, dass die Vorinstanz einseitig zugunsten des Gutachters und gegen die behandelnde Nachsorgeärztin entschieden habe. Doch das Bundesgericht wies dies unter Verweis auf das Willkürverbot zurück. Solange die Schlüsse des Obergerichts vertretbar sind – etwa dass eine Verletzung durch den Shaver extrem unwahrscheinlich ist –, greift Lausanne nicht ein.

    Ein weiterer entscheidender Rechtsgrundsatz, der zur Anwendung kam, ist das Anklageprinzip (abgeleitet aus Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 32 Abs. 2 BV sowie Art. 9 StPO). Bezüglich der Brandverletzung argumentierte die Vorinstanz, dass die Anklageschrift dem Arzt vorwarf, die Wunde während der Operation mit dem Vapor-Gerät verursacht zu haben. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Verbrennung wohl eher nach der OP passierte, als die Hand versehentlich auf dem noch heissen Gerät abgelegt wurde. Da dieser spezifische Lebenssachverhalt (das Ablegen nach der OP) nicht angeklagt war, durfte der Arzt deswegen nicht verurteilt werden. Das Gericht darf nicht über den in der Anklageschrift umgrenzten Sachverhalt hinausgehen.

    Pro und Contra: Eine kritische Würdigung

    Für den Freispruch spricht zweifellos die Unschuldsvermutung. Im Strafrecht muss die Schuld zweifelsfrei bewiesen sein. Wenn renommierte Experten sagen, ein Operationsfehler sei extrem unwahrscheinlich und technisch kaum erklärbar, darf ein Gericht nicht aus einem „Bauchgefühl“ heraus oder aus Mitleid mit dem Opfer verurteilen. Die strikte Anwendung des Anklagegrundsatzes schützt zudem jeden Bürger davor, für Taten verurteilt zu werden, die ihm so nie explizit vorgeworfen wurden, was eine effektive Verteidigung erst ermöglicht.

    Auf der Contra-Seite hinterlässt das Urteil jedoch einen bitteren Nachgeschmack. Es entsteht der Eindruck einer Beweisnot für Patienten. Wenn während einer Narkose – einer Phase totaler Kontrolllosigkeit des Patienten – massive Schäden entstehen und der Arzt sich darauf berufen kann, dass man ihm den genauen mechanischen Hergang (Vapor, Shaver oder Skalpell) nicht mikroskopisch nachweisen kann, wirkt das Ergebnis ungerecht. Dass die theoretische Möglichkeit einer „Selbstverletzung“ des Patienten nach der OP als begründeter Zweifel herangezogen wird, obwohl dafür keine konkreten Anhaltspunkte vorlagen, dehnt den Zweifelssatz sehr weit zugunsten des Arztes aus. Besonders frustrierend ist der formalistische Umgang mit der Brandwunde: Dass eine Verbrennung im OP-Saal stattfand, ist unstrittig, aber weil der Zeitpunkt (während vs. direkt nach dem Eingriff) in der Anklage falsch verortet war, bleibt sie strafrechtlich folgenlos.

    Fazit und eigene Entscheidung

    Trotz des tragischen Ergebnisses für den Patienten bin ich mit der Entscheidung des Bundesgerichts aus rechtsstaatlicher Sicht einverstanden.

    Das Strafrecht ist das schärfste Schwert des Staates und verlangt zu Recht höchste Beweissicherheit. Eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung nach Art. 125 StGB setzt voraus, dass eine Sorgfaltspflichtverletzung kausal für den Schaden war. Wenn ein Gutachter sagt „Ich weiss nicht, wie das passiert sein soll“ und Wahrscheinlichkeiten von 0,11 % nennt, fehlt es an der für eine strafrechtliche Verurteilung notwendigen Sicherheit.

    Hätte ich anders entschieden? Nein, denn das Bundesgericht war durch Art. 105 Abs. 1 BGG an die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz gebunden, sofern keine Willkür vorlag. Die Argumentation der Vorinstanz war schlüssig: Kein nachgewiesener Operationsfehler bedeutet kein strafbares Verhalten. Dass Zivilansprüche (Schadenersatz und Genugtuung nach Art. 41 OR) nun auf den Zivilweg verwiesen wurden, ist die logische Konsequenz, aber auch die letzte Hoffnung für den Patienten. Im Zivilrecht gelten teilweise andere Beweismassstäbe, doch im Strafrecht muss gelten: Im Zweifel für den Angeklagten, auch wenn es weh tut.


  • 004: Moskau Inkasso, Tempolimits und die Frage der Zurechnungsfähigkeit

    Urteil des Bundesgerichts 6B_378/2024 vom 15. Januar 2025

    Das Bundesgericht hat mit seinem Urteil 6B_378/2024 vom 15. Januar 2025 einen Fall abgeschlossen, der sowohl durch die Dreistigkeit der deliktischen Handlung als auch durch die vorgebrachten juristischen Verteidigungsstrategien aufhorchen lässt. Im Zentrum stand ein Beschwerdeführer, der wegen gewerbsmässiger Erpressung, Nötigung und grober Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. Der Mann betrieb ein aggressives Inkassounternehmen, trat teilweise mit Jacken der Aufschrift “Schuldeintreibung” auf, bedrohte Schuldner und forderte willkürliche Gebühren ein. Parallel dazu wurde er mit massiv überhöhter Geschwindigkeit auf einer Autobahnbaustelle geblitzt. Vor Bundesgericht versuchte er, das Urteil des Berner Obergerichts mit zwei Hauptargumenten zu kippen: Er sei schuldunfähig (und hätte begutachtet werden müssen) und die Geschwindigkeitsbegrenzung sei unklar gewesen. Das Bundesgericht wies die Beschwerde vollumfänglich ab.

    Die rechtlichen Eckpunkte: Hohe Hürden für Zweifel an der Schuldfähigkeit

    Der juristische Kern dieses Entscheids dreht sich primär um die Anwendung von Art. 20 StGB. Dieser Artikel besagt, dass ein Gericht ein psychiatrisches Gutachten anordnen muss, wenn ernsthafter Anlass zu Zweifeln an der Schuldfähigkeit des Täters besteht. Das Bundesgericht bestätigte hier seine strenge Praxis: Nicht jede psychische Auffälligkeit oder Persönlichkeitsstörung begründet solche Zweifel. Der Beschwerdeführer führte ins Feld, er habe einen tiefen IQ (82) und diverse Störungen, weshalb ein Gutachten zwingend gewesen wäre. Das Gericht argumentierte jedoch funktional: Wer in der Lage ist, ein komplexes Inkassosystem aufzubauen, Mahnungen zu verfassen, strategisch vorzugehen (z.B. Zeugen mitzunehmen, um sich abzusichern) und sein Aussageverhalten prozessual anzupassen, beweist einen intakten Realitätsbezug. Ein Widerspruch zwischen Tat und Täterpersönlichkeit lag nicht vor; das Verhalten war zielgerichtet, nicht wahnhaft.

    Ein zweiter wesentlicher Punkt betrifft das Strassenverkehrsrecht. Der Beschwerdeführer war nach einer Baustelle zu schnell gefahren und argumentierte, die Beschränkung sei dort eigentlich aufgehoben gewesen oder er habe sich geirrt. Das Bundesgericht statuierte hier erneut das strikte Gehorsamsprinzip: Signalisierte Höchstgeschwindigkeiten sind auch dann zu beachten, wenn sie dem Autofahrer sinnlos erscheinen oder rechtswidrig sein könnten (z.B. wenn eine Baustelle faktisch beendet, das Schild aber noch nicht entfernt ist). Ein Irrtum wurde als Schutzbehauptung verworfen.

    Pro und Contra: Zwischen Prozessökonomie und Schutzbedürftigkeit

    Nimmt man eine kritische Haltung zu diesem Urteil ein, so lässt sich für die Position des Bundesgerichts ins Feld führen, dass es der “Flucht in die Krankheit” einen Riegel vorschiebt. Es ist ein bekanntes Muster in Strafverfahren, dass Täter, die mit rationaler Verteidigung nicht weiterkommen, versuchen, ihre Schuldfähigkeit in Frage zu stellen. Das Gericht stärkt hier die Eigenverantwortung: Wer im Geschäftsleben “clever” und manipulativ agieren kann, muss sich auch strafrechtlich an seinen Taten messen lassen. Zudem dient die strikte Auslegung der Verkehrsregeln der Rechtssicherheit; würde man jedem Autofahrer zugestehen, die Gültigkeit von Schildern subjektiv zu beurteilen, entstünde Chaos auf den Strassen.

    Auf der Contra-Seite könnte man jedoch argumentieren, dass das Bundesgericht hier sehr technokratisch urteilt. Ein IQ von 82 liegt im Bereich der Lernbehinderung. Kombiniert mit Persönlichkeitsstörungen könnte dies durchaus die Steuerungsfähigkeit beeinträchtigen, selbst wenn die intellektuelle Einsicht ins Unrecht vorhanden ist. Dass das Gericht hier eine Begutachtung ablehnt, weil der Täter “funktioniert”, könnte verkennen, dass psychische Defekte oft inselartig auftreten. Man kann Briefe schreiben und trotzdem unfähig sein, Impulse zu kontrollieren. Zudem wirkt die Bestätigung der Verkehrsregelverletzung extrem rigide: Wenn eine Gefahrenstelle (Baustelle) offensichtlich nicht mehr existiert, widerspricht das Beharren auf dem Schild dem gesunden Menschenverstand, auch wenn es juristisch korrekt ist.

    Entscheidung und Fazit

    Wäre ich anstelle der Bundesrichter gewesen, hätte ich dem Urteil dennoch zugestimmt. Der entscheidende Faktor ist für mich die Planmässigkeit der Erpressungsdelikte. Der Beschwerdeführer hat sich Forderungen zedieren lassen, Behördenanfragen getätigt und sogar “Entlastungsschreiben” von Opfern unterzeichnen lassen. Das ist kein impulsives, krankhaftes Verhalten, sondern kriminelle Energie, die kognitive Planung voraussetzt. Wer so viel Energie in das Umgehen von Regeln investiert, kann sich nicht darauf berufen, deren Bedeutung nicht zu verstehen. Auch der Widerruf der bedingten Vorstrafe ist angesichts der Rückfallgeschwindigkeit und der Uneinsichtigkeit (“Moskau Inkasso”-Methoden während laufender Probezeit) die einzig logische Konsequenz zum Schutz der Allgemeinheit.

    Offene Fragen

    Dennoch bleibt eine gewisse Unbehagen in Bezug auf die Definition des “ernsthaften Anlasses” für Zweifel an der Schuldfähigkeit. Wo genau verläuft die Grenze? Das Urteil suggeriert, dass ein gewisses Mass an “Alltagskompetenz” und deliktischer Organisation fast automatisch die volle Schuldfähigkeit impliziert. Es stellt sich die Frage, ob wir damit nicht Gefahr laufen, hochfunktionale psychisch Kranke, deren Störung sich gerade in zwanghaftem oder antisozialem, aber geplantem Verhalten äussert, durch das Raster der forensischen Psychiatrie fallen zu lassen. Muss ein Täter erst völlig wirr und desorganisiert handeln, damit der Staat genauer hinsieht? Hier bleibt ein Spannungsfeld zwischen juristischer Praktikabilität und psychiatrischer Realität bestehen.

    Das sind die relevanten Gesetzesartikel aus dem vorliegenden Urteil (BGE 6B_378/2024) und die Erklärung, wie das Bundesgericht diese im konkreten Fall angewendet hat:

    1. Schuldfähigkeit und Gutachten (Art. 19 und Art. 20 StGB)

    Die Gesetzesartikel:

    • Art. 19 Abs. 1 StGB: Regelt die Schuldunfähigkeit. Wer zur Zeit der Tat nicht fähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, ist nicht strafbar.
    • Art. 20 StGB: Regelt die Anordnung eines Gutachtens. Besteht ernsthafter Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, muss die Behörde einen Sachverständigen beiziehen.

    Anwendung durch das Gericht:
    Der Beschwerdeführer (A.________) machte geltend, er sei möglicherweise schuldunfähig gewesen (u.a. wegen verminderter Intelligenz, IQ 82, und Persönlichkeitsstörungen) und man hätte zwingend ein Gutachten einholen müssen.

    Das Bundesgericht lehnte dies ab:

    • Kein ernsthafter Zweifel: Das Gericht argumentierte, dass nicht jede psychische Auffälligkeit Zweifel an der Schuldfähigkeit begründet. Der Täter muss “in hohem Masse in den Bereich des Abnormen fallen”.
    • Realitätsbezug vorhanden: Das Verhalten des Beschwerdeführers sprach gegen eine Schuldunfähigkeit. Er betrieb ein komplexes Inkasso-System (“Moskau Inkasso”), verfasste Mahnschreiben, passte sein Verhalten opportunistisch an Situationen an (z.B. Zeugen mitnehmen) und agierte im Strafverfahren zielgerichtet.
    • Schlussfolgerung: Da sein Verhalten zeigte, dass er das Unrecht einsehen und danach handeln konnte, verletzte die Vorinstanz kein Bundesrecht, indem sie auf ein Gutachten verzichtete (Art. 20 StGB).

    2. Widerruf des bedingten Vollzugs (Art. 46 StGB i.V.m. Art. 42 StGB)

    Die Gesetzesartikel:

    • Art. 46 Abs. 1 StGB: Begeht jemand während der Probezeit eine Straftat und ist zu erwarten, dass er weitere Straftaten verübt (Schlechtprognose), widerruft das Gericht die bedingte Strafe.
    • Art. 46 Abs. 2 StGB: Ein Widerruf ist nicht zwingend, wenn keine negative Prognose besteht.
    • Art. 42 StGB: Regelt die Voraussetzungen für den bedingten Strafvollzug (Prognoseentscheid).

    Anwendung durch das Gericht:
    Der Beschwerdeführer hatte eine offene Bewährungsstrafe von 16 Monaten aus einem früheren Urteil (2014). Er beging die neuen Taten während der (bereits einmal verlängerten) Probezeit.

    Das Bundesgericht bestätigte den Widerruf:

    • Rückfall: Der Beschwerdeführer ist während der Probezeit erneut straffällig geworden (sowohl Verkehrsdelikte als auch Erpressung/Nötigung). Dass es teilweise nur “Versuche” waren oder die Delikte nicht identisch waren (nicht einschlägig), spielt für Art. 46 Abs. 1 StGB keine Rolle; es genügt die Erwartung weiterer Straftaten.
    • Schlechtprognose: Das Gericht stellte eine negative Legalprognose fest. Der Beschwerdeführer zeigte sich unbelehrbar, unneinsichtig und ohne Empathie für die Opfer. Weder frühere Verurteilungen noch Probezeitverlängerungen hatten ihn abgehalten. Daher war der Widerruf der alten Strafe rechtmässig.

    3. Sachverhaltsfeststellung und Willkürverbot (Art. 97, Art. 105, Art. 106 BGG)

    Die Gesetzesartikel:

    • Art. 105 Abs. 1 BGG: Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat.
    • Art. 97 Abs. 1 BGG: Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig (willkürlich) ist.
    • Art. 106 Abs. 2 BGG: Strenge Rügepflicht für Grundrechtsverletzungen (wie Willkür).

    Anwendung durch das Gericht:
    Der Beschwerdeführer bestritt die grobe Verkehrsregelverletzung (Geschwindigkeitsüberschreitung von 115 km/h bei erlaubten 80 km/h) mit der Behauptung, er habe gedacht, die Begrenzung sei aufgehoben gewesen (Irrtum) oder die Signalisation sei unklar gewesen.

    Das Bundesgericht wies dies ab:

    • Keine Willkür: Die Vorinstanz stützte sich auf das Polizeiprotokoll, das die Signalisation bestätigte. Die Behauptung des Beschwerdeführers, er habe eine Aufhebung “vermutet”, qualifizierte das Gericht als Schutzbehauptung.
    • Mangelnde Begründung: Der Beschwerdeführer konnte nicht darlegen, dass die Beweiswürdigung der Vorinstanz “schlechterdings unhaltbar” war, was für eine erfolgreiche Willkürrüge notwendig gewesen wäre.
    • Rechtsfolge: Selbst bei rechtswidriger Signalisation (was hier nicht belegt war) müssten Signale aus Sicherheitsgründen beachtet werden. Die Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung blieb bestehen.

    4. Kosten (Art. 64, Art. 65, Art. 66 BGG)

    Die Gesetzesartikel:

    • Regeln die Gerichtskosten und die unentgeltliche Rechtspflege.

    Anwendung durch das Gericht:
    Da die Beschwerde als “aussichtslos” eingestuft wurde, lehnte das Gericht das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ab (Art. 64 BGG). Der Beschwerdeführer muss die reduzierten Gerichtskosten von Fr. 1’200.– selbst tragen.

  • 003: Der Chauffeur, das Kokain, die Ehefrau und die Landesverweisung

    Urteil 6B_926/2023 des Bundesgerichts vom 13. Januar 2025

    Der Bundesgerichtsentscheid 6B_926/2023 vom 13. Januar 2025 bietet reichlich Stoff für Diskussionen, da es zwei der wohl umstrittensten Bereiche des Schweizer Strafrechts berührt: Die prozessuale Verwertbarkeit von Aussagen Dritter und die Härtefallprüfung bei der obligatorischen Landesverweisung von “Secondos”. Im Zentrum steht A., ein in der Schweiz geborener türkischer Staatsangehöriger, der sich als Fahrer für einen Drogendeal einspannen liess und nun um seinen Verbleib in der Schweiz kämpft.

    Der Fall und die rechtlichen Hürden

    Der Sachverhalt liest sich zunächst wie ein klassisches Betäubungsmitteldelikt. A. chauffierte den Drogendealer B. zu einem Lieferanten, wo dieser ein Kilogramm reines Kokain auf Kommission übernahm. A. wusste um die Drogen und die Gefahr, handelte aber “nur” als Fahrer. Während er vom Vorwurf des späteren Weiterverkaufs freigesprochen wurde, blieb die Verurteilung wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz bestehen. Die Konsequenz der Vorinstanz war hart: 24 Monate bedingte Freiheitsstrafe und sieben Jahre Landesverweisung.

    Rechtlich spannend wird es in zwei Bereichen. Erstens versuchte die Verteidigung, die Aussagen des Dealers B., welche A. belasteten, für unverwertbar zu erklären. Das Argument: B. sei bei seiner ersten Einvernahme nicht genügend über den Tatvorhalt informiert worden. Zweitens wehrte sich A. gegen die Landesverweisung unter Berufung auf sein Recht auf Privat- und Familienleben (Art. 8 EMRK), da er hier geboren ist, kaum Bezug zur Türkei hat und mit einer Schweizerin verheiratet ist.

    Das Verdikt aus Lausanne: Prozessual hart, menschenrechtlich differenziert

    Das Bundesgericht bestätigt in diesem Entscheid einmal mehr seine ständige Rechtsprechung zur Beweisverwertung. Es stellt klar, dass Beschuldigte grundsätzlich nicht legitimiert sind, die Verletzung von Verfahrensrechten Dritter zu rügen. Selbst wenn der Dealer B. bei seiner Einvernahme nicht korrekt belehrt worden wäre – was das Gericht hier verneinte, da der Vorhalt “Betäubungsmittelhandel” genügte –, könnte A. daraus keinen Honig saugen. Vorschriften über Einvernahmen dienen dem Schutz der befragten Person, nicht dem Schutz von Mitbeschuldigten. Damit zementiert das Gericht den Grundsatz, dass formelle Fehler in Parallelverfahren nicht automatisch als “Joker” für andere Beteiligte dienen.

    Ganz anders sieht es bei der Landesverweisung aus. Hier hebt das Bundesgericht den Entscheid der Vorinstanz auf. Das Obergericht Zürich hatte es sich zu einfach gemacht, indem es argumentierte, der Ehefrau von A. sei ein Leben in der Türkei zuzumuten, nur weil sie das Land schon bereist habe und “etwas Türkisch” spreche. Lausanne rügt diese oberflächliche Betrachtung deutlich. Eine Schweizerin, die hier ein Unternehmen führt, kann nicht pauschal auf ein Leben in der Türkei verwiesen werden. Das Bundesgericht verlangt eine echte, vertiefte Prüfung des Härtefalls unter Einbezug der beruflichen Situation der Ehefrau, womit der Schutz des Familienlebens (Art. 8 EMRK) über den Automatismus der Ausschaffungsinitiative gestellt wird.

    Kritische Würdigung: Ein notwendiges Korrektiv

    Ich bin mit dem Entscheid des Bundesgerichts in seiner Stossrichtung einverstanden, allerdings mit einer gewissen Ambivalenz bezüglich der prozessualen Strenge.

    Auf der Pro-Seite ist die Korrektur bei der Landesverweisung absolut zu begrüssen. Die Praxis der Untergerichte, bei verheirateten Ausländern (insbesondere Secondos) die “Zumutbarkeit” der Ausreise für den Schweizer Partner vorschnell zu bejahen, grenzt oft an Zynismus. Wenn eine Schweizer Unternehmerin ihren Mann nur behalten kann, wenn sie ihre Existenz hier aufgibt und in ein ihr fremdes Kulturumfeld zieht, wird das Recht auf Familienleben zur Farce. Dass das Bundesgericht hier einschreitet und eine detaillierte Prüfung verlangt, stärkt die Verhältnismässigkeit im Ausländerrecht massiv. Es zeigt, dass der “Härtefall” keine leere Floskel sein darf, sondern das Schicksal der Angehörigen – die keine Straftat begangen haben – ernst nehmen muss.

    Contra gebe ich jedoch zu bedenken, dass die Rechtsprechung zur Unverwertbarkeit von Beweisen für Dritte (“keine Rügelegitimation für Rechte Dritter”) zwar der Prozessökonomie dient, aber rechtsstaatlich heikel bleibt. Wenn ein Beweis (hier die Aussage von B.) theoretisch rechtswidrig zustande gekommen wäre, führt dessen Verwendung gegen A. zu einem Unbehagen. Der Staat profitiert dann indirekt von seinen eigenen Fehlern im Parallelverfahren. Dass das Bundesgericht hier sehr pragmatisch entscheidet (“Der Dealer wusste ja grob, worum es geht”), ist verständlich, senkt aber die Latte für saubere Polizeiarbeit in frühen Verfahrensstadien.

    Fazit und offene Fragen

    Hätte ich zu entscheiden gehabt, wäre ich dem Bundesgericht gefolgt. Die Rückweisung an die Vorinstanz ist zwingend. Ein hier geborener Ersttäter (im Sinne einer schweren Tat), der “nur” Fahrer war und dessen Schweizer Ehefrau hier wirtschaftlich verankert ist, darf nicht ohne präzise Interessenabwägung ausgewiesen werden. Die Landesverweisung ist eine strafrechtliche Massnahme, keine administrative Abschiebung; sie muss verhältnismässig sein.

    Dennoch bleiben gewichtige Fragen offen, die nun das Obergericht Zürich klären muss:
    Wie schwer wiegt die berufliche Existenz der Ehefrau konkret? Reicht ihre Selbstständigkeit aus, um das öffentliche Interesse an der Ausweisung eines Koka-Kuriers zu übertrumpfen? Zudem bringt der Fall eine interessante zeitliche Komponente ins Spiel: Der Beschwerdeführer machte geltend, mittlerweile Vater geworden zu sein und eine Lehre abgeschlossen zu haben (echte Noven). Diese Punkte konnte das Bundesgericht formell nicht berücksichtigen, doch die Vorinstanz wird sie nun im neuen Verfahren vollumfänglich in die Waagschale werfen müssen. Es ist gut möglich, dass diese neuen Tatsachen das Pendel endgültig zugunsten eines Verbleibs in der Schweiz ausschlagen lassen – was zeigt, wie dynamisch und einzelfallabhängig die Härtefallprüfung in der Realität sein muss.

    Das Urteil lässt sich in drei Hauptbereiche unterteilen: 1. Materielles Strafrecht (Betäubungsmittel), 2. Strafprozessrecht (Verwertbarkeit von Aussagen) und das 3. “Landesverweisungsrecht”.

    1. Betäubungsmittelgesetz (BetmG)

    Relevante Artikel:

    • Art. 19 Abs. 1 lit. b und d BetmG: (Straftatbestand für Handel, Befördern etc. von Betäubungsmitteln)
    • Art. 19 Abs. 2 lit. a BetmG: (Qualifizierter Fall / “Schwerer Fall”, wenn die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr gebracht wird)

    Anwendung durch das Gericht:
    Das Gericht bestätigte den Schuldspruch der Vorinstanz. Der Beschwerdeführer (A.) hatte einen Kokaindealer (B.) zu einer Übergabe von 1 Kilogramm Kokain chauffiert. Da er um die Menge und die Gefährlichkeit wusste, erfüllte er den Tatbestand der qualifizierten Widerhandlung. Das Gericht stufte dies als Mittäterschaft ein, da er einen wesentlichen Beitrag leistete. Diese Verurteilung bildet die Basis für die obligatorische Landesverweisung.

    2. Strafprozessordnung (StPO) und Beweisverwertung

    Relevante Artikel:

    • Art. 29 und 30 StPO: (Grundsatz der Verfahrenseinheit und Trennung von Verfahren)
    • Art. 158 Abs. 1 lit. a StPO: (Hinweispflichten bei der ersten Einvernahme / Vorhalt der Straftat)
    • Art. 143 StPO: (Durchführung der Einvernahme)
    • Art. 180 StPO: (Auskunftsperson)

    Anwendung durch das Gericht:

    • Verfahrenstrennung (Art. 29/30 StPO): Der Beschwerdeführer rügte, sein Verfahren hätte nicht von dem des Dealers B. getrennt werden dürfen. Das Gericht wies dies ab. Da im Betäubungsmittelhandel verschiedene Akteure oft selbstständige Tatbestände erfüllen (und nicht nur Gehilfen sind), war die getrennte Führung zulässig.
    • Gültigkeit der Einvernahmen (Art. 158 StPO): Der Beschwerdeführer argumentierte, die Aussagen des Dealers B., die ihn belasteten, seien nicht verwertbar, weil B. zu Beginn nicht korrekt über den Tatvorwurf informiert wurde.
      • Das Bundesgericht entschied: Ein Beschuldigter (A.) kann sich grundsätzlich nicht auf die Verletzung von Verfahrensrechten eines Dritten (B.) berufen, es sei denn, die Beweise wären absolut unverwertbar.
      • Zudem prüfte das Gericht den Vorhalt bei B. und fand ihn genügend: B. wurde gesagt, es gehe um Betäubungsmittelhandel in grossem Stil im relevanten Zeitraum. Details (wie der genaue Ort) durften im Verlauf der Befragung präzisiert werden. Die Aussagen von B. blieben somit als Beweis gegen A. verwertbar.

    3. Landesverweisung (StGB, EMRK, BV)

    Dies ist der Punkt, in dem der Beschwerdeführer teilweise Recht bekam.

    Relevante Artikel:

    • Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB: (Obligatorische Landesverweisung bei qualifizierten Betäubungsmitteldelikten)
    • Art. 66a Abs. 2 StGB: (Härtefallklausel: Ausnahme von der Verweisung bei schwerem persönlichen Härtefall)
    • Art. 8 EMRK und Art. 13 BV: (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens)

    Anwendung durch das Gericht:

    • Obligatorische Verweisung: Da der Beschwerdeführer wegen eines qualifizierten BetmG-Delikts verurteilt wurde, ist die Landesverweisung grundsätzlich zwingend (Art. 66a Abs. 1 StGB).
    • Härtefallprüfung (Art. 66a Abs. 2 StGB i.V.m. Art. 8 EMRK):
      • Die Vorinstanz hatte einen Härtefall verneint und argumentiert, es sei dem Beschwerdeführer und seiner Schweizer Ehefrau zumutbar, in die Türkei zu ziehen.
      • Korrektur durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht hob das Urteil in diesem Punkt auf. Es rügte, dass die Vorinstanz nicht geprüft hatte, ob es der Ehefrau (einer selbstständigen Schweizerin) tatsächlich zumutbar sei, ihr Unternehmen und ihr Leben in der Schweiz aufzugeben, nur weil sie “etwas Türkisch spricht” und das Land schon besucht hat.
      • Das Gericht stellte fest, dass die Vorinstanz den Schutzbereich von Art. 8 EMRK (Familienleben) ungenügend geprüft hatte. Der Fall wurde zurückgewiesen, um die Zumutbarkeit der Ausreise für die Ehefrau und damit das Vorliegen eines Härtefalls neu und vertieft zu prüfen.

    4. Bundesgerichtsgesetz (BGG) – Verfahrensrecht

    Relevante Artikel:

    • Art. 99 Abs. 1 BGG: (Novenverbot / Keine neuen Tatsachen)
    • Art. 66d StGB: (Aufschub des Vollzugs der Landesverweisung)

    Anwendung durch das Gericht:
    Der Beschwerdeführer reichte neue Beweise ein (Lehrabschlusszeugnis, Schwangerschaft der Frau), die nach dem vorinstanzlichen Urteil entstanden waren. Das Bundesgericht durfte diese “echten Noven” gemäss Art. 99 BGG nicht berücksichtigen. Es wies jedoch darauf hin, dass solche neuen Umstände (wie die Geburt eines Kindes) später bei den Vollzugsbehörden als Hindernis gemäss Art. 66d StGB geltend gemacht werden können.

  • 002: Wann wird Körperverletzung zu versuchter Tötung?

    Urteil 6B_888/2024 des Bundesgerichts vom 13. Januar 2025

    Ein nächtlicher Streit vor einem Lokal in Winterthur, zwei verfeindete Lager, Alkohol und gezückte Klappmesser – was nach einem klassischen Szenario für schwere Körperverletzung klingt, endete vor dem Bundesgericht mit einer Bestätigung der Verurteilung wegen mehrfacher versuchter Tötung. Das Urteil vom 13. Januar 2025 (6B_888/2024) ist nicht nur wegen der hohen Freiheitsstrafe von 12 Jahren und der Landesverweisung von 11 Jahren relevant, sondern vor allem wegen der strikten Auslegung des Tötungsvorsatzes bei Messerangriffen auf die Extremitäten.

    Der Fall: Eskalation mit Folgen

    Im Kern dreht sich der Fall um eine Auseinandersetzung im März 2020, die ihren Ursprung in Eheproblemen und häuslicher Gewalt hatte. Der Beschwerdeführer A. traf zusammen mit einem Begleiter D. auf die Brüder seiner Kontrahenten. Nach einer verbalen Provokation und einem Faustschlag durch A. eskalierte die Situation. A. wurde zwar zu Boden gestossen, doch die Reaktion war unverhältnismässig: A. und D. zogen Klappmesser. Während D. zustach, stach auch A. einem Opfer (A.C.) in den Oberbauch und verfolgte ein weiteres Opfer (A.B.) bis zu dessen Auto, wo er ihm mehrfach tief in den Oberschenkel stach. Beide Opfer überlebten nur dank rascher medizinischer Hilfe schwerverletzt.

    Das Bundesgericht bestätigte die vorinstanzliche Sichtweise vollumfänglich. Es wies die Rügen der Willkür bei der Beweiswürdigung zurück und stützte sich auf die Aussagen der Opfer sowie eines neutralen Zeugen. Rechtlich spannend ist hierbei die Qualifikation der Tat: Trotz der Tatsache, dass A. “nur” in den Oberschenkel und den Bauch stach, wurde dies als versuchte Tötung gewertet. Das Gericht argumentierte mit dem sogenannten Eventualvorsatz. Wer unkontrolliert mit einem Messer in den Bauch oder in den Oberschenkel (wo die grosse Beinschlagader verläuft) sticht, muss sich der Lebensgefahr bewusst sein. Dass der Tod nicht eintrat, war Glück, nicht das Verdienst des Täters. Auch das Argument der Notwehr liess das Gericht nicht gelten, da A. den Streit physisch begonnen hatte und seine Opfer teils verfolgte, als diese sich bereits auf dem Rückzug befanden.

    Kritische Würdigung: Die feine Linie zwischen Verletzung und Tötung

    Dieses Urteil bietet Zündstoff für eine juristische Debatte.

    Auf der Pro-Seite muss man dem Bundesgericht zugutehalten, dass es eine klare Linie gegen Gewalt mit Stichwaffen zieht. Die Argumentation ist konsequent: Ein Messer ist ein tödliches Instrument. Wer es in einer dynamischen, aggressiven Auseinandersetzung einsetzt, gibt die Kontrolle über das Ergebnis ab. Besonders die Würdigung der Stiche in den Oberschenkel als Tötungsversuch ist medizinisch und rechtlich vertretbar. Die Arteria femoralis ist riesig; ein Treffer dort führt oft schneller zum Verbluten als ein Stich in den Torso. Täter, die behaupten, sie wollten “nur verletzen”, nehmen bei einem solch wilden Einstechen den Tod billigend in Kauf. Das Gericht schützt hier das Rechtsgut Leben konsequent vor der Schutzbehauptung “Ich habe ja nur auf das Bein gezielt”. Zudem wurde die Notwehr zu Recht abgelehnt: Wer eine Schlägerei beginnt (Faustschlag) und den Gegner dann verfolgt, kann sich nicht auf Verteidigungswillen berufen.

    Auf der Contra-Seite könnte man argumentieren, dass die Hürde für den Tötungsvorsatz hier sehr niedrig angesetzt wird. Der Beschwerdeführer war stark alkoholisiert (ca. 2,2 bis 2,5 Promille) und befand sich in einer hochgradig emotionalen Ausnahmesituation. Die Annahme, dass ein derart enthemmter Täter in der Hitze des Gefechts kognitiv reflektiert, dass ein Stich in den Oberschenkel tödlich sein könnte, und diesen Tod dann auch noch billigt, ist eine juristische Konstruktion, die sich weit von der psychologischen Realität des Tätermoments entfernen kann. Es besteht die Gefahr, dass die Abgrenzung zur qualifizierten Körperverletzung verwischt wird, wenn fast jeder tiefe Stich in Extremitätennähe pauschal als Tötungsversuch gewertet wird. 12 Jahre Haft sind ein Strafmass, das manchen vollendeten Tötungsdelikten nahekommt, obwohl hier “nur” der Versuch vorlag.

    Fazit und Entscheidung

    Nach Abwägung der Argumente bin ich mit dem Entscheid des Bundesgerichts einverstanden. Die Brutalität und das Nachtatverhalten (Verfolgung des Opfers zum Auto) lassen wenig Raum für Milde. Wer ein Messer zieht und es mehrfach mit Wucht in sensible Körperregionen rammt, kann sich nicht darauf zurückziehen, er habe die Konsequenzen nicht gewollt. Der Schutz der Allgemeinheit und die Generalprävention wiegen hier schwerer als die Zweifel am konkreten Tötungswillen im Moment des Rausches. Das Gericht sendet ein wichtiges Signal: Wer Messer einsetzt, haftet für das maximale Risiko, das er schafft.

    Offene Fragen

    Dennoch bleiben nach der Lektüre Fragen offen, die für zukünftige Fälle relevant sein könnten:


    1.: Wo genau zieht das Bundesgericht die Grenze bei der “Gefährlichkeit” von Stichen in Extremitäten? Wäre ein Stich in den Unterschenkel oder den Arm bei ähnlicher Blutungswahrscheinlichkeit (z.B. Pulsader) künftig auch zwingend ein Tötungsversuch?

    2.: Wie stark muss die Alkoholisierung sein, um den Vorsatz (das “Wissen und Willen”) ernsthaft in Frage zu stellen? Das Gericht ging hier von einer “leichten bis mittleren Enthemmung” aus, trotz relativ hoher Promillewerte. Es bleibt die Frage, ob die forensische Bewertung von Alkoholtoleranz in solchen Gewalt-Exzessen immer der realen kognitiven Einschränkung des Täters gerecht wird.

    Das Urteil lässt sich grob in verfahrensrechtliche Aspekte (BGG) und materiell-rechtliche Aspekte (StGB) unterteilen.

    1. Materiell-rechtliche Bestimmungen (Strafgesetzbuch – StGB)

    Art. 111 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB (Tötung / Versuch)
    Obwohl der Artikel im Text nicht explizit als Nummer genannt wird, ist er die Basis des Schuldspruchs “Mehrfache versuchte Tötung”.

    • Anwendung durch das Gericht: Das Gericht bestätigte den Schuldspruch wegen versuchter Tötung (zum Nachteil von A.B. und A.C.). Es bejahte den Eventualvorsatz.
      • Begründung: Wer unkontrolliert mit einem Messer in den Bauch (bei A.C.) oder in den Oberschenkel nahe der Hauptschlagader (bei A.B.) sticht, schafft ein hohes Risiko für tödliche Verletzungen. Da der Beschwerdeführer (A.) in Rage handelte und die Stiche heftig waren, musste ihm die Lebensgefahr bewusst sein. Er hat den Tod der Opfer somit billigend in Kauf genommen.

    Art. 15 StGB (Rechtfertigende Notwehr)

    • Inhalt: Wer ohne Recht angegriffen wird, darf den Angriff in angemessener Weise abwehren.
    • Anwendung durch das Gericht: Das Gericht verneinte eine Notwehrsituation für den Beschwerdeführer.
      • Begründung:
        1. Der Beschwerdeführer selbst hatte die physische Auseinandersetzung durch einen Faustschlag eingeleitet (Provokation).
        2. Im späteren Verlauf verfolgte er das Opfer A.B. bis zu dessen Auto und stach auf ihn ein, als dieser sich bereits auf dem Rückzug befand (kein gegenwärtiger Angriff mehr).
        3. Beim Opfer A.C. lag gar kein Angriff vor, da dieser nur ein “Mitläufer” war.

    Art. 16 Abs. 1 und 2 StGB (Entschuldbare Notwehr / Notwehrexzess)

    • Inhalt: Überschreitung der Notwehrgrenzen (Milderung der Strafe) oder Überschreitung aus entschuldbarer Aufregung (Straflosigkeit).
    • Anwendung durch das Gericht: Da nach Ansicht des Gerichts gar keine Notwehrsituation (Art. 15 StGB) vorlag, kam auch kein Notwehrexzess in Betracht.

    Art. 47 StGB (Strafzumessung)

    • Inhalt: Das Gericht misst die Strafe nach dem Verschulden des Täters zu (Tatverschulden, Beweggründe, Vorleben, persönliche Verhältnisse).
    • Anwendung durch das Gericht: Das Bundesgericht bestätigte die Freiheitsstrafe von 12 Jahren.
      • Alkoholisierung: Die Verteidigung forderte eine stärkere Strafminderung wegen Alkoholkonsums (ca. 2,2 bis 2,5 Promille). Das Gericht folgte dem nur teilweise. Es erkannte eine Enthemmung an, lehnte aber eine schwere Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit ab, da der Beschwerdeführer keine Ausfallserscheinungen (wie Koma oder Verlust der Reflexe) zeigte. Das Verschulden wurde als “mittel” bis “nicht mehr leicht” eingestuft.

    Art. 66a StGB (Landesverweisung)

    • Inhalt: Obligatorische Ausweisung aus der Schweiz bei bestimmten schweren Delikten (Katalogtaten).
    • Anwendung durch das Gericht: Da der Schuldspruch wegen versuchter Tötung (eine Katalogtat) bestätigt wurde, blieb auch die angeordnete Landesverweisung von 11 Jahren bestehen. Der Antrag auf Verzicht wurde abgewiesen, da dieser nur für den Fall eines Freispruchs gestellt worden war.

    2. Verfahrensrechtliche Bestimmungen (Bundesgerichtsgesetz – BGG)

    Art. 105 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 97 Abs. 1 BGG (Sachverhaltsfeststellung)

    • Inhalt: Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Dies kann nur gerügt werden, wenn die Feststellung offensichtlich unrichtig (willkürlich) ist.
    • Anwendung durch das Gericht: Das Gericht wies die Rügen des Beschwerdeführers bezüglich des Tathergangs (z.B. wer wem wann genau wohin gestochen hat) ab.
      • Begründung: Der Beschwerdeführer konnte keine Willkür nachweisen. Er präsentierte lediglich seine eigene Sicht der Dinge (appellatorische Kritik), anstatt aufzuzeigen, dass die Beweiswürdigung der Vorinstanz (Obergericht Zürich) unhaltbar war. Die Vorinstanz hatte die Aussagen der Opfer und Zeugen schlüssig gewürdigt.

    Art. 106 Abs. 2 BGG (Rügeprinzip bei Grundrechtsverletzungen)

    • Inhalt: Verletzungen von Grundrechten (wie das Willkürverbot) müssen in der Beschwerde präzise geltend gemacht und begründet werden.
    • Anwendung durch das Gericht: Viele Einwände der Verteidigung wurden nicht gehört (Nichteintreten), weil sie diesen strengen Begründungsanforderungen nicht genügten. Es reichte nicht aus zu behaupten, die Vorinstanz habe “falsch” entschieden; man muss darlegen, warum es verfassungswidrig war.

    Art. 103 Abs. 2 lit. b BGG (Aufschiebende Wirkung)

    • Anwendung: Das Gericht stellte klar, dass die Beschwerde für die Freiheitsstrafe und die Landesverweisung aufschiebende Wirkung hat, nicht aber für die Zivilforderungen (Genugtuung/Schadenersatz).

    Art. 64 BGG (Unentgeltliche Rechtspflege)

    • Anwendung: Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde abgewiesen, da die Beschwerde als “aussichtslos” eingestuft wurde. Der Beschwerdeführer muss daher die Gerichtskosten tragen.

  • 001: Vom Cold Case zum Raser-Urteil

    Urteil 6B_381/2024 des Bundesgerichts vom 13. Januar 2025

    Der Weg zur materiellen Wahrheit im Strafprozess ist oft steinig, doch selten zeigt sich das Spannungsfeld zwischen staatlichem Strafanspruch und den Verfahrensrechten der Beschuldigten so deutlich wie im vorliegenden Fall. Das Bundesgericht hatte zu entscheiden, ob Beweismittel, die im Rahmen einer unrechtmässigen Wiederaufnahme eines Mordverfahrens gefunden wurden, für die Verurteilung wegen Verkehrsdelikten genutzt werden dürfen. Das Ergebnis ist ein Lehrstück über die Grenzen der “Fruit of the poisonous tree”-Doktrin im Schweizer Recht.

    Der Fall: Ein Zufallsfund mit bitterem Beigeschmack

    Die Vorgeschichte liest sich wie ein Krimi. Im Jahr 2003 wurde eine Person getötet, das Verfahren gegen den Beschuldigten A. jedoch 2006 mangels Beweisen eingestellt. Jahre später, im Jahr 2014, nahm die Staatsanwaltschaft das Verfahren wieder auf – gestützt auf eine operative Fallanalyse. Im Zuge dieser neuen Ermittlungen wurde das Mobiltelefon des Beschuldigten beschlagnahmt und ausgewertet. Zwar erhärtete sich der Mordverdacht nicht (das Verfahren wurde erneut eingestellt), doch die Ermittler stiessen auf dem Handy auf Videos, die den Beschuldigten bei massiven Geschwindigkeitsüberschreitungen im Jahr 2017 zeigten.

    Das juristische Problem: Die Vorinstanz und nun auch das Bundesgericht stellten fest, dass die Wiederaufnahme des Mordverfahrens eigentlich rechtswidrig war. Die operative Fallanalyse bot keine “neuen Beweismittel” im Sinne von Art. 323 StPO, sondern lediglich eine Neubewertung bekannter Fakten. Damit fehlte die rechtliche Basis für die Zwangsmassnahmen, also auch für die Handydurchsuchung. Die Kernfrage lautete somit: Dürfen Videos, die nur aufgrund eines verfahrensrechtlichen Fehlers gefunden wurden, als Beweis für die Verkehrsdelikte dienen?

    Die Rechtslage: Zufallsfund vs. Fishing-Expedition

    Das Bundesgericht rettet die Verwertbarkeit der Videos über eine interessante Argumentationskette. Zunächst grenzt es den sogenannten Zufallsfund von einer unzulässigen Beweisausforschung (“Fishing-Expedition”) ab. Eine Fishing-Expedition liegt vor, wenn Ermittlungen quasi “ins Blaue hinein” und ohne hinreichenden Verdacht geführt werden, um irgendetwas Strafbares zu finden. Solche Beweise sind grundsätzlich unverwertbar.

    Hier argumentiert das Gericht jedoch, dass die Staatsanwaltschaft subjektiv in “guten Treuen” handelte. Sie ging irrtümlich davon aus, die Wiederaufnahme sei rechtmässig. Da zudem mit dem Tötungsdelikt eine konkrete Straftat im Raum stand, handelte es sich nicht um eine willkürliche Rasterfahndung. Die Rechtswidrigkeit der Wiederaufnahme führt laut Bundesgericht nicht zur Nichtigkeit des gesamten Verfahrens.

    Damit stuft das Gericht die Videos als “rechtswidrig erlangte Beweise” ein, die nach der Interessenabwägung von Art. 141 Abs. 2 StPO verwertbar sind, sofern sie zur Aufklärung “schwerer Straftaten” unerlässlich sind. Das Bundesgericht bestätigt seine strenge Praxis, wonach qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzungen (sogenannte Raserdelikte) als solche schwere Straftaten gelten. Das öffentliche Interesse an der Verkehrssicherheit überwiegt hier das Interesse des Beschuldigten an der Einhaltung der Verfahrensregeln.

    Pro und Contra: Heiligt der Zweck die Mittel?

    Für die Position des Bundesgerichts spricht zweifellos das hohe Gut der Verkehrssicherheit. Wer sich selbst dabei filmt, wie er andere Verkehrsteilnehmer durch massive Raserei gefährdet, offenbart eine erhebliche kriminelle Energie. Es wäre für das allgemeine Rechtsempfinden nur schwer vertretbar, einen derart gefährlichen Fahrer strafrechtlich ungeschoren davonkommen zu lassen, nur weil die Staatsanwaltschaft bei der formalen Hürde der Wiederaufnahme eines Mordfalls eine Fehleinschätzung vorgenommen hat. Die Schweizer Strafprozessordnung kennt kein absolutes Beweisverwertungsverbot (wie etwa in den USA), sondern setzt auf eine Abwägung. Dass Raserdelikte aufgrund der potenziell tödlichen Konsequenzen als “schwere Straftaten” gelten, ist konsequent im Sinne der “Via Sicura”-Gesetzgebung.

    Auf der anderen Seite lässt sich gewichtig argumentieren, dass dieser Entscheid Tür und Tor für den Missbrauch staatlicher Macht öffnet. Der Art. 323 StPO (Wiederaufnahme) dient dem Rechtsfrieden und dem Schutz vor ewiger Verfolgung (ne bis in idem). Wenn die Staatsanwaltschaft ein rechtskräftig geschlossenes Verfahren ohne echte neue Beweise wiedereröffnen kann, dabei “zufällig” andere Straftaten entdeckt und diese dann verwerten darf, wird der Schutzmechanismus des Art. 323 StPO ausgehöhlt. Man könnte kritisch einwenden, dass der Staat hier von seinem eigenen Rechtsbruch profitiert. Die Argumentation, es habe keine “Fishing-Expedition” vorgelegen, weil die Staatsanwaltschaft “in guten Treuen” handelte, wirkt zirkulär: Unkenntnis oder Fehlinterpretation der Gesetze schützt die Behörde vor den Konsequenzen ihres Handelns, während der Bürger die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommt.

    Fazit und Kritik: Ein gefährlicher Präzedenzfall

    Nach Abwägung der Argumente stehe ich dem Entscheid kritisch gegenüber und hätte wohl anders entschieden. Zwar ist das Ergebnis – die Bestrafung eines Rasers – gesellschaftlich wünschenswert, doch der dogmatische Preis ist hoch.

    Das Bundesgericht dehnt den Begriff des “Zufallsfundes” hier sehr weit aus. Wenn eine Verfahrenshandlung (die Wiederaufnahme) von Beginn an unrechtmässig war, weil die gesetzlichen Voraussetzungen fehlten, ist alles, was daraus folgt, eben nicht nur ein “kleiner Formfehler”, sondern ein fundamentaler Eingriff in die Rechtssicherheit. Indem das Gericht die subjektive Sicht der Staatsanwaltschaft (“guter Glaube”) so stark gewichtet, schwächt es die objektiven Schranken der Strafverfolgung. Es entsteht der Eindruck, dass bei ausreichend schweren Zufallsfunden (Raserdelikte) prozessuale Grundrechte (Schutz vor unbegründeter Wiederaufnahme) zur Disposition stehen. Die Disziplinierung der Strafverfolgungsbehörden, sich strikt an die Regeln der Wiederaufnahme zu halten, wird durch solche Urteile geschwächt.

    Offene Fragen

    Der Entscheid hinterlässt zudem einige unbeantwortete Fragen für die Praxis:

    Erstens bleibt die genaue Grenzziehung zur “Fishing-Expedition” unscharf. Wo endet der “gute Glaube” der Staatsanwaltschaft bei einer fehlerhaften Wiederaufnahme? Ab wann muss eine Staatsanwaltschaft erkennen, dass eine “Fallanalyse” eben kein neuer Beweis ist?

    Zweitens stellt sich die Frage nach der Definition der “schweren Straftat” im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO in diesem Kontext. Wären die Videos auch verwertbar gewesen, wenn sie “nur” Betäubungsmittelkonsum oder einfache Vermögensdelikte gezeigt hätten? Das Bundesgericht scheint hier eine sehr tiefe Schwelle anzusetzen, indem es Verkehrsdelikte (Gefährdungsdelikte) ausreichen lässt, um schwerwiegende Verfahrensfehler zu heilen.

    Es bleibt ein Unbehagen: Der Staat darf Fehler machen und die Früchte dieser Fehler nutzen, solange er nur das “Richtige” (die Verurteilung eines Schuldigen) will. Ob das langfristig das Vertrauen in den Rechtsstaat stärkt, darf bezweifelt werden.

    1. Beweiserhebung und Verwertbarkeit (Zentraler Streitpunkt)

    Art. 141 StPO (Beweisverwertbarkeit)

    • Inhalt: Regelt, wann Beweise verwendet werden dürfen. Abs. 2 besagt, dass rechtswidrig erhobene Beweise nur verwertet werden dürfen, wenn dies zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich ist.
    • Anwendung durch das Gericht:
      • Das Gericht stellte fest, dass die Durchsuchung des Handys zwar rechtswidrig war (weil die Wiederaufnahme des Verfahrens, die zur Durchsuchung führte, ungerechtfertigt war).
      • Aber: Das Gericht wandte die Interessenabwägung nach Art. 141 Abs. 2 StPO an. Es stufte die vorliegenden Verkehrsdelikte (Raserdelikte, qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung) als schwere Straftaten ein.
      • Daher überwog das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung das private Interesse des Beschwerdeführers. Die Videos der Raserfahrten durften trotz des Verfahrensfehlers als Beweis genutzt werden.

    Art. 243 StPO (Zufallsfunde)

    • Inhalt: Regelt den Umgang mit Beweismitteln, die zufällig bei einer Zwangsmassnahme gefunden werden, die eigentlich einer anderen Tat gilt.
    • Anwendung durch das Gericht:
      • Die Videos auf dem Handy wurden als Zufallsfunde qualifiziert. Die Polizei suchte eigentlich nach Hinweisen für ein Tötungsdelikt, fand aber Beweise für Verkehrsdelikte.
      • Das Gericht grenzte dies von einer unzulässigen “Fishing-Expedition” (Beweisausforschung aufs Geratewohl) ab. Da die Staatsanwaltschaft bei der Anordnung der Durchsuchung subjektiv (wenn auch irrtümlich) glaubte, Gründe für eine Wiederaufnahme des Tötungsfalles zu haben, handelte sie nicht willkürlich (“aufs Geratewohl”). Deshalb handelte es sich um verwertbare Zufallsfunde und nicht um verbotene Ausforschung.

    Art. 323 StPO (Wiederaufnahme des Verfahrens)

    • Inhalt: Legt fest, wann ein eingestelltes Verfahren wieder aufgenommen werden darf (nur bei neuen Beweismitteln oder Tatsachen).
    • Anwendung durch das Gericht:
      • Das Gericht bestätigte indirekt, dass die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Tötungsdelikts im Jahr 2014 nicht erfüllt waren (die “Operative Fallanalyse” war kein neues Beweismittel).
      • Das Gericht entschied jedoch, dass dieser Fehler nicht zur Nichtigkeit des gesamten Verfahrens führte, sondern “nur” zur Rechtswidrigkeit der Beweiserhebung, was wiederum zur oben genannten Abwägung nach Art. 141 StPO führte.

    2. Materielles Strafrecht (Die Tatvorwürfe)

    Art. 90 Abs. 2 und Abs. 3 SVG (Strassenverkehrsgesetz)

    • Inhalt:
      • Abs. 2: Grobe Verkehrsregelverletzung (ernstliche Gefahr für andere).
      • Abs. 3: Qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung (“Raserdelikt”, besonders rücksichtsloses Verhalten, hohes Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten/Toten).
    • Anwendung durch das Gericht:
      • Der Beschwerdeführer hatte sich dieser Delikte schuldig gemacht (dokumentiert durch die Videos).
      • Das Bundesgericht nutzte die Schwere dieser Delikte (insbesondere Abs. 3), um zu begründen, warum die Beweise trotz Verfahrensfehlern verwertbar waren (siehe Art. 141 StPO). Es handelt sich nicht um blosse Bagatell- oder Gefährdungsdelikte, sondern um schwere Straftaten im Sinne der Rechtsprechung zur Beweisverwertung.

    3. Strafzumessung und Verfahrensdauer

    Art. 48 lit. e StGB (Strafmilderung)

    • Inhalt: Das Gericht mildert die Strafe, wenn seit der Tat viel Zeit vergangen ist (in der Regel 2/3 der Verjährungsfrist) und der Täter sich wohl verhalten hat.
    • Anwendung durch das Gericht:
      • Der Beschwerdeführer forderte eine Strafmilderung wegen der langen Zeit seit den Taten (2017).
      • Das Gericht berechnete die Verjährungsfristen für die Raserdelikte (15 Jahre). Zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils waren die notwendigen zwei Drittel dieser Frist noch nicht abgelaufen.
      • Aufgrund der Schwere der Taten (eine Serie massiver Geschwindigkeitsüberschreitungen in kurzer Zeit) sah das Gericht keinen Anlass, die Zeitgrenze zugunsten des Täters weicher auszulegen. Der Antrag auf Strafmilderung wurde abgewiesen.

    Art. 5 Abs. 1 StPO (Beschleunigungsgebot)

    • Inhalt: Strafbehörden müssen Verfahren unverzüglich vorantreiben.
    • Anwendung durch das Gericht:
      • Der Beschwerdeführer rügte die lange Verfahrensdauer (2014 bis 2023).
      • Das Gericht prüfte die Dauer ab der Ausdehnung auf die Verkehrsdelikte (2019) bis zum Urteil. Eine Dauer von 4 ¾ Jahren wurde angesichts der komplexen Rechtsfragen (Verwertbarkeit der Beweise, Wiederaufnahmeverfahren) als nicht überlang bewertet. Es lag keine Verletzung des Beschleunigungsgebots vor.

    4. Verfassungsrecht / EMRK

    Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 3 EMRK (Unschuldsvermutung / Fair Trial)

    • Inhalt: Rechte auf ein faires Verfahren.
    • Anwendung durch das Gericht:
      • Der Beschwerdeführer argumentierte, die Nutzung der Handyvideos verletze den Kerngehalt dieser Grundrechte.
      • Das Gericht wies dies zurück, da die Beweiserhebung zwar fehlerhaft, aber nicht willkürlich (keine “Fishing-Expedition”) war und die Verwertung durch das öffentliche Interesse an der Bestrafung schwerer Verkehrsdelikte gerechtfertigt sei.